Berichte aus Energie- und Umweltforschung 6a/1997
Nachwachsende Rohstoffe und Sanfte Chemie. Teil a: Grundlagen

Theoretische Grundlagen, Chancen und Perspektiven für Österreich

Inhaltsbeschreibung

Fast alle Herausforderungen haben einen globalen Ursprung und internationale Wirkungen, effiziente Problemlösungen beginnen aber zumeist auf der regionalen und lokalen Ebene. Die vorliegende Studie berichtet über einen Forschungs- und Produktionsansatz, der das Ziel verfolgt, eine neue stoffpolitische Grundlage auf der Basis einer "Sanften Chemie" im Licht der aktuellen Nachhaltigkeitsdiskussion anzuregen und zu vertiefen.

Das Forschungsprojekt referiert die Grundsätze und Zukunftsperspektiven, aber auch die Grenzen, Hindernisse und möglichen Fehlentwicklungen (Stichwort Gentechnik), die sich aus der bisherigen 20-jährigen Entwicklung der Sanften Chemie ableiten lassen. Ein sanft-chemischer Umgang mit Stoffen und Produkten nimmt Abschied von Verhaltensmustern, die häufig auf Gedankenlosigkeit und Desinteresse an der bestehenden Rohstoffbasis und den daraus resultierenden Umwandlungsformen beruhen.

In besonderer Weise geht es bei diesem Projekt darum, innovative Verfahren, neue Produkt- und Nutzungskonzepte zu beschreiben, die eine Fortentwicklung der Menschheit auch nach dem vorhersehbaren Erschöpfen der fossilen Rohstoffvorräte ermöglichen soll. Ein solcher Schritt in Richtung einer "Neugestaltung der Stoffwirtschaft" ist sicherlich nicht frei von Risiken und Zielkonflikten.

Sanfte Chemie ist daher in ihren Grundzügen ein permanenter Entwicklungsprozess, der von gesellschaftspolitischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlich-technischen und nicht zuletzt von kulturellen Randbedingungen gefördert rsp. gebremst wird. Berichtet wird für Fachleute und engagierte Laien, die sich für die Eigenschaften der Stoffe in ihrer natürlichen und technischen Umwelt interessieren. Im Projekt finden sich praktische Hinweise dazu, wie wir bisher unseren Bedarf an Farben, Kleidung, Heimtextilien, Baustoffen, Verpackungen, Kosmetika, Waschmittel und Pflanzenschutzmitteln gedeckt haben, und welche ökologischen, gesundheitlichen und globalen Probleme daraus erwachsen sind. Ebenso enthält unsere Arbeit konkrete Vorschläge, wie wir künftig unsere stofflichen Bedürfnisse befriedigen könnten, ohne den Kredit der natürlichen Schöpfung zu überziehen und die Biosphäre mit fremdartigen, risikobeladenen Stoffen zu strapazieren.

Das Projekt Sanfte Chemie tangiert alle Mitmenschen, die als Verbraucher und Produzenten von Chemie betroffen sind, aber auch Pädagogen an Schulen und Universitäten, Schüler und Studenten. Es richtet sich ebenso an die vielen Menschen, die in der Industrie täglich damit beschäftigt sind, Rohstoffe in Zwischenprodukte und schließlich in Gebrauchsartikel umzuwandeln oder neue Produkte zu erfinden. Wir halten den sanft-chemischen Weg deshalb für wichtig, weil wir in wenigen Jahrzehnten, bezogen auf die heute bestehende Rohstoffbasis, vor dem stofflichen Nichts stehen werden. Wenig ist bisher für den Tag vorbereitet worden, an dem der letzte Tropfen Rohöl aus einer (noch) ausbeutungswürdigen Lagerstätte gepumpt wird. Viele von uns werden den Tag noch erleben müssen, für unsere Kinder und Enkel ist er unausweichliche Realität mit einschneidenden Konsequenzen für die gesamte Gesellschaft. Sanfte Chemie ist eine angepasste Technologie, bei der folgende Punkte Beachtung finden: optimale Nutzung heimischer, regenerierbarer Ressourcen und Energiequellen-Erhaltung des natürlichen Gleichgewichtes durch umweltschonende Verfahren befriedigende Arbeitsbedingungen durch vielfältige und sinnvolle Tätigkeiten größere Autonomie von lokalen und regionalen Gemeinschaften von Individuen durch die Erhaltung überschaubarer Einheiten

Sanfte Chemie wird demnach im wesentlichen als Teil einer integrativen Naturstrategie im Leitbild einer neuen Stoffwirtschaft (Kreislaufwirtschaft) definiert. Die Notwendigkeit einer Sanften Chemie ergibt sich aus der kritischen Reflexion der real existierenden Chemie ausgehend von ihrer historischen Entwicklung, Theorie und Praxis sowie im Hinblick auf deren störfallrelevante, toxikologische, ökologische, ökonomische und soziale Grundlagen und lokale wie globale Auswirkungen.

Eines der Probleme der modernen Petrochemie liegt darin, dass ihre Denk-, Forschungs- und Arbeitsstrukturen kaum je einer internen Kritik unterzogen wurden. Selbst viele kritische Chemiker haben die seit fast 400 Jahren zugrundeliegenden Denk- und Forschungsmuster verinnerlicht. Daher geht die Studie im ersten Teil auch exemplarisch auf die Chlorchemie ein, die den gesamten industriekomplex wesentlich mitgeprägt hat. In einem weiteren Schritt werden die erkennbaren Folgen dieser Chemie für Umwelt, Gesundheit und Gesellschaft skizziert.

Dabei werden auch erst vor kurzem bekannt gewordene Zusammenhänge zwischen manchen dieser Chemikalien (Xeno-Östrogene) und einer Vielzahl von Langzeitfolgen wie sinkenden Spermienzahlen, Unfruchtbarkeit und Fehlbildungen des Genitalsystems sowie Entwicklungs- und Fortpflanzungsstörungen im Tierreich referiert. Der Schutz des Menschen und der Biosphäre vor chemischen Risiken kann und muss selbstverständlich auf verschiedenen Ebenen erfolgen. Das chemiepolitische Instrumentarium bietet mittlerweile ein breites Spektrum von Möglichkeiten zur Gefahrenerkennung und Abwehr chemischer Noxen.

Die Umweltdiskussion im Chemiebereich hat sich in den letzten Jahren von einer ausschließlichen Einzelstoffbetrachtung und -diskussion zu einer umfassenden Stoffstromdiskussion entwickelt. Immer mehr wurde deutlich, dass auch hier die Grenzen des nachgeschalteten, reparierenden Umweltschutzes erreicht sind. Durch auf einzelne Schadstoffe ausgerichtete "End-of-Pipe-Technologien", Stoffverbote und -beschränkungen konnten zwar zahlreiche Umweltbelastungen vermieden oder abgeschwächt werden, vom "Zerstörungskurs" der modernen Zivilisation wurde aber dadurch nicht abgegangen. Im Gegenteil: Mehr denn je wird klar, dass der derzeitige Stoff- und Materialverbrauch der Industriestaaten die Grenzen der ökologischen Tragfähigkeit bereits bei weitem überschritten hat.

Aus diesem Grund räumen wir den neuen Leitbildern der ökologisch ausgerichteten Stoffpolitik in unserer Arbeit breiten Raum ein. Das Konzept einer nachhaltigen Wirtschaftsweise gilt wie für die Energie- und Verkehrspolitik auch für unseren Umgang mit Stoff- und Materialströmen. Die Eignung dieses Konzepts der Zukunftsfähigkeit ergibt sich daraus, dass der Nachhaltigkeitsanspruch umweltpolitische und entwicklungspolitische Aspekte unter einem globalen Blickwinkel verknüpft. Die Stoffpolitik muss die ökonomische und soziale Bedeutung der Massenströme ebenso beachten wie deren ökologische Folgewirkungen. Leitbilder einer zukunftsfähigen Stoffpolitik haben daher eine grundsätzliche Orientierung zu leisten, in welche Richtung sich die Stoffwirtschaft und allgemein der Umgang mit Stoffen und Materialien in der Industriegesellschaft entwickeln sollen.

Die Sanfte Chemie erhebt den Anspruch, chemisch-technologische Prozesse in der Weise zu regeln, dass deren Haupt- und Nebenprodukte problemlos in bestehende Ökosysteme eingliederbar sind und gleichzeitig Entropiezuwächse bzw. Energieverluste minimiert werden. Ausgangs-, Zwischen- und Endpunkte sanft-chemischer Produktonsabläufe (inkl. Rohstoffgewinnung und Transport) sollen an ökologische Erfordernisse optimal angepasst sein und auch soziale Faktoren (z.B. den Ausschluss gesundheitsgefährdender Stoffe am Arbeitsplatz oder die Frage der Rohstoffpreise in Schwellenländern) mitberücksichtigen. In der konkreten Umsetzung greift die Sanfte Chemie einerseits auf toxikologisch unbedenkliche und problemlos verfügbare Stoffe und Strukturen des Primär- und Sekundärstoffwechsels im biogenen Kohlenstoffkreislauf zurück, z.B. Zellulose, Stärke und Lignin oder das kaum genutzte Chitin. Schon die Kohlenhydrate und Polysaccharide bieten eine Vielzahl von attraktiven Anwendungsmöglichkeiten.

Aber auch die Naturfasern in ihrer Gesamtheit wie Flachs oder Hanf, die für hautnahe Textilien möglichst schonend kultiviert, verarbeitet und ausgerüstet werden, spielen im Spektrum der nachwachsenden Rohstoffe eine wichtige Rolle. Im Rahmen der Bemühungen zur Wiedereinführung des Industriepflanzenanbaues in Österreich kommt den Ölpflanzen besondere Bedeutung zu. Die in ihren Samen enthaltenen öle können aufgrund ihrer spezifischen Fettsäuremuster und des Gehaltes an anderen wertvollen Substanzen die Grundstoffe zur Erzeugung sehr verschiedenartiger Produkte durch die Industrie bilden. Dazu haben Ölsaaten den Vorteil, dass sie zumeist vollständig verarbeitbar sind, denn nach der Extraktion der Öle können die verbleibenden Samenbestandteile zu hochwertigen Futtermitteln aufbereitet werden.

Andererseits stehen aus dem Pflanzenreich auch bislang wenig beachtete "biologisch aktive" Agentien des Sekundärstoffwechsels zur Auswahl, die möglichst gezielt und gemäß ihrer "natürlichen Funktion" zum Einsatz kommen können. Dazu zählen u.a. Farbstoffe, Harze, Gerbstoffe, Wachse, ätherische Öle, aber auch Repellents, pflanzliche Hormone, Phytopharmaka usw. Beispielsweise bieten Pflanzenfarben eine unglaubliche Vielfalt von Variationsmöglichkeiten, sie wirken harmonisch, sind brillant und lichtecht - auch auf Baumwolle, Leinen und Hanf. Pflanzenfarben brauchen nicht mehr, sondern weniger und harmlosere chemische Hilfsmittel, um auf der Faser zu haften, und viele Färbepflanzen lassen sich sogar auf Brachland anbauen.

Die Erzeugung von Industriegrundstoffen könnte für die österreichische Landwirtschaft in Zukunft ein wichtiger Bereich ihrer Wertschöpfung sein und auch für die österreichische Volkswirtschaft mehr Unabhängigkeit von Rohstoffimporten bringen. Chemieprodukte aus nachwachsenden Rohstoffen geben Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft. Sie entlasten die Umwelt, weil sie Teil des geschlossenen Kreislaufs der Biosphäre sind. Sie entsprechen einem neuen, umfassenderen Qualitätsbegriff, der neben optimalem Preis/Leistungsverhältnis die ökologisch/soziale Verträglichkeit enthält. Sie nutzen auf unterschiedliche Weise die komplexen Synthesevorleistungen der Natur und erzielen damit einen erheblichen Vorteil gegenüber synthetischen Produkten.

Mit dem Aufzeigen von gedanklichen und stofflichen Alternativen sowie Beispielen für deren Umsetzung wird der thematische Kern der Arbeit vertieft. Die dokumentierten Beispiele für eine sanfte Pflanzenchemie stellen zwar nur den Anfang einer neuen Entwicklung dar, doch die Prinzipien einer echten Nachhaltigkeit in der Stoffverwendung (wie sie bei den konventionellen Produktlinien nahezu ausgeschlossen ist) lassen sich damit bereits deutlich umreißen. Gleichzeitig soll in diesem Kapitel auch eine Abgrenzung zu anderen Ansätzen neuer Chemiepolitik und Produktionspraxis, sowie zu möglicher missbräuchlicher Verwendung des Begriffes oder seiner Inhalte (insbesonders im Hinblick auf Gentechnik und 'harte Biotechnologie') vorgenommen werden.

Einen wesentlichen Baustein im Gebäude der Sanften Chemie bildet der ökologische Landbau, der sich besonders in Österreich wachsender Beliebtheit erfreut. Wir sehen die Notwendigkeit dieser sanften Bewirtschaftung des Bodens auch für den Industriepflanzenanbau als gegeben an und können auf entsprechende Vorbilder in Deutschland (s. Das Leinöl-Projekt der Firma Auro) verweisen.

Die Nutzung nachwachsender Rohstoffe aufgrund sanft-chemischer Prinzipien kann heute schon als ein fester und in Zukunft ausbaufähiger Teil der Rohstoffversorgung der Industrie gelten. Die Chancen sind da am größten, wo nur wenige physikalische, chemische oder biotechnologische Veredelungsschritte nötig sind, um industriell verwertbare Stoffe zu erhalten. Erfolgsentscheidend sind letztlich die anwendungstechnischen und ökologischen Eigenschaften, sowie die Wirtschaftlichkeit der aus den nachwachsenden Rohstoffen hergestellten Produkte.

Bibliographische Daten

"Nachwachsende Rohstoffe und Sanfte Chemie"
Hanswerner Mackwitz (Concerned People GmbH)

Berichte aus Energie- und Umweltforschung 6a/1997

Im Auftrag des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung
541 Seiten
Wien, Dezember 1996