Bewertung der Bauteilaktivierung als Option für Flexibilität im Strommarkt
Kurzbeschreibung
Die möglichst vollständige Umstellung der Stromerzeugung auf regenerative Quellen bringt viele Herausforderungen mit sich. Ganz oben steht die Bewältigung der massiv erhöhten Volatilität auf den Strommärkten. Vorhandene technische Systeme und Marktmechanismen zur Synchronisierung von Stromerzeugung und Stromabnahme sind stark gefordert. Bislang bzw. absehbar stehen v.a. flexible Erzeugungskapazitäten, Pumpspeicherkraftwerke und vielfältige Maßnahmen des „demand response" (z.B. die Nutzung vorhandener Batterien oder die Herstellung von Wasserstoff: „Power to Gas") zur Verfügung. Noch wenig am Radar der E-Wirtschaft ist die Nutzung des Gebäudesektors als Flexibilität (Sektorkopplung). Die vorliegende Studie verfolgt das Ziel, die Bauteilaktivierung als Speichermedium für die Energiewende in Diskussion zu bringen.
Bei der Bewertung der Potenziale einer solchen Sektorkopplung geht es einerseits um Nutzen und Integrierbarkeit in bestehende Regelungsmechanismen der Stromnutzung und andererseits um mögliche Vorteile für die Immobilienwirtschaft sowie einen möglichen Beitrag zur Leistbarkeit des Wohnens beim Heizen und Kühlen.
Die Bauteilaktivierung ist am leichtesten dadurch erklärt, dass die Betondecke zum Heizkörper wird. Die große Abstrahlungsfläche ermöglicht niedrige Vorlauftemperaturen, hohen Wohnkomfort und geringe Energiekosten. Neben Heizen ist auch kostengünstiges und emissionsarmes Kühlen möglich. Der Einbau ist technisch unproblematisch, die Kosten liegen fast gleichauf mit anderen Wärmeverteilsystemen (Fußbodenheizung, Radiatoren). Hinsichtlich der technischen Lebensdauer bzw. Reparaturfähigkeit werden keine wesentlichen Probleme gesehen. Der Wärme- bzw. Kälte-eintrag erfolgt typischerweise mittels Wärmepumpen.
Wärmepumpen haben den großen Vorteil, dass aus einem Teil elektrischer Energie ein Mehrfaches an Wärme- bzw. Kühlenergie gewonnen werden kann. Für die Wärmeerzeugung im Niedertemperaturbereich sind sie dadurch wesentlich effektiver als fossile Energieträger und bei entsprechendem Strombezug treibhausgasneutral. Der Nutzen für das Energiesystem ergibt sich aus der Trägheit der Bauteilaktivierung. Es dauert viele Stunden und Tage, bis die Betondecken temperiert sind und ebenso lange für das Auskühlen. Daher besteht große Flexibilität dahingehend, wann die Wärmepumpen ein- und ausgeschaltet werden. Die Steuerung kann damit auf die Rahmenbedingungen im Stromnetz oder am Strommarkt abgestellt werden. Mit Smart-Ready Wärmepumpen ist dies heute schon ebenso möglich, wie die vorausschauende Berücksichtigung des Wetters.
Nach langjähriger Nutzung zur Kühlung bei Büroimmobilien, ist die Bauteilaktivierung auch schon seit etlichen Jahren im Wohnbau im Einsatz. In die Skalierung kommt sie aber erst jetzt. Einerseits wurde belegt, dass ihr Einsatz als alleiniges System für Heizen und Kühlen (also ohne sekundäres System wie z.B. Lüftung mit Wärmerückgewinnung) möglich und dadurch kosteneffizient ist. Andererseits hat die Betonfertigteilindustrie mit der Produktion vorgefertigter Systemdecken mit integrierter Bauteilaktivierung begonnen. Die Beton- und Zementindustrie ist angesichts ihres hohen Ausstoßes an Treibhausgasen stark bei der Skalierung dieser Technologie engagiert.
Um die Forschungsfrage dieser Studie nach dem zukünftigen Stellenwert der Bauteilaktivierung für die Energieversorgung zu beantworten, wurde ein Schätzmodell zum erwartbaren Neubau von Wohn- und Dienstleistungsbauten bis 2040 sowie der Sanierung von Bestandsbauten entwickelt. Ausgehend von bisherigen Neubauraten und der Prognose der Haushaltsentwicklung wurden vielfältige Inputgrößen berücksichtigt, etwa die Entwicklung von Leerstandsraten, die Entwicklung von Abriss und Ersatzneubau, der Trend zu Bestandssanierungen, Investitionstrends u.v.m. Den Schätzwerten zu Neubau und Sanierung wurde mit Unterstützung eines Expertennetzwerks eine plausible Durchdringung mit der neuen Technologie der Bauteilaktivierung und (ebenfalls aktivierbarer) Fußbodenheizung zugeordnet und auf dieser Basis eine Marktentwicklung für netzdienlich aktivierbare Flächen im Gebäudesektor bis 2040 abgeschätzt. Die Ergebnisse wurden mehrfachen Plausibilisierungen und Sensitivitätstests unterzogen. Unter den getroffenen Annahmen wird davon ausgegangen, dass angesichts der vielfältigen Vorteile des Systems die Marktdurchdringung der Bauteilaktivierung rasch zulegen wird. Von heute etwa 500.000m² neu installierter Flächen dürfte der jährliche Output bis 2040 auf über 2,5 Mio. m² ansteigen. Kumuliert sind das dann annähernd 30 Mio. m² (jeweils Wohn- und Dienstleistungsgebäude Neubau und Sanierung zusammengenommen), wobei nicht das gesamte Potenzial mit netzdienlichen Wärmepumpen betrieben wird. Die (in geringerem Ausmaß netzdienlich aktivierbare) Fußbodenheizung startet mit einem deutlich höheren Volumen von aktuell etwa 2,5 Mio. m², das bis auf ca. 4 Mio. m² steigen wird. Kumuliert werden das (ohne Altbestände) über 50 Mio. m² sein. Angesichts der sich rasch verbreitenden Smart Ready Wärmepumpen steht also absehbar ein bedeutendes Volumen an netzdienlich aktivierbaren Flächen zur Verfügung. Dieses bildet die Grundlage für die nachfolgend durchgeführten Potenzialabschätzungen.
Wesentliche Rahmenbedingungen für den netzdienlichen Einsatz von Wärmepumpen sind bereits rechtlich und mittels Normen implementiert. Ein Meilenstein ist die ab 2024 verpflichtende „Smart-Grid-Ready"-Schnittstelle, die eine Unterbrechung des Betriebs von Wärmepumpen durch den Verteilnetzbetreiber ermöglicht („EVU-Sperre"). Auch ist vorgesehen, für diese netzdienliche Funktion einen reduzierten Tarif anbieten zu können. Mit dem Smart-Grid-Ready-Label wurde für den deutschsprachigen Raum ein Industriestandard geschaffen, der auch komplexe Regelungen zulässt, etwa die Berücksichtigung von Wettervorhersagedaten für die optimierte Steuerung von Wärmepumpen. Die Entwicklung von Energiesteuerungssystemen macht große Fortschritte hinsichtlich der optimierten Nutzung unterschiedlicher Energiequellen, der Optimierung von Smart Grids und dem Energieaustausch innerhalb von Energiegemeinschaften.
Internationale Forschungsprojekte liefern einige Ergebnisse zur Eignung von Gebäuden als Energiespeicher. Besondere Eignung haben demnach Gebäude mit trägem Wärmeübergabesystem, hoher Speichermasse und guter Dämmung. Wegen ihrer Anfälligkeit für Überhitzung erfordern sie allerdings komplexe Regelungssysteme.
Die Mechanismen zum Ausgleich von Stromerzeugung und -konsum sind komplex. Sie lassen sich in unterschiedliche Teilmärkte gliedern. Für den ganz kurzfristigen Ausgleich (wenige Sekunden bis eine Stunde) dient der Regelenergiemarkt. Hier lassen sich relativ hohe Strompreise erzielen, die Anforderungen an Leistung und Reaktionsgeschwindigkeit sind aber entsprechend, sodass nur rund 10% der Kapazitäten nachfrageseitig abgedeckt werden, der große Rest aber durch Wasser- und Gaskraftwerke. Um Überlastungen des Stromnetzes zu verhindern, werden Dienstleistungen für sogenannte Netzreserven ausgeschrieben, bislang nur im Hochspannungsnetz, in mehreren nordeuropäischen Ländern auch im Mittel- und Niederspannungsnetz. Der Großteil des Energiehandels läuft über Börsen (z.B. Spot-Märkte), über Langfristverträge und auch außerhalb organisierter Märkte.
Die mit Bauteilaktivierung in großem Maßstab mögliche Flexibilität kann eine Rolle spielen bei der Portfoliooptimierung mittels Arbitrage-Effekten (Nutzung der Preisvolatilität bis hin zu Negativpreisen) oder der Minimierung von Ausgleichsenergiekosten, die jeden Marktakteur im Rahmen seiner Bilanzgruppe betreffen. Großes Potenzial aus Konsumentensicht haben Kosteneinsparungen durch eine Maximierung der Eigennutzung von vor Ort erzeugtem PV-Strom. Kosteneinsparungen für Konsumenten bei Netzbezug setzen eine differenzierte Tarifgestaltung voraus, die heute erst ansatzweise zum Einsatz kommt.
Die für die vorliegende Studie titelgebende „Flexibilität" im Strommarkt bedarf der Präzisierung. In dieser Studie geht es hauptsächlich um die „marktdienliche Flexibilität" und deren Nutzung durch Akteure am liberalisierten Strommarkt, etwa durch die Nutzung von günstigem (erneuerbarem) Überschussstrom. Zu unterscheiden ist dies von „systemdienlicher Flexibilität", die dem Übertragungsnetzbetreiber hilft, die Stabilität des Netzes zu gewährleisten (meist Aufrechterhaltung der Frequenz), sowie von „netzdienlicher Flexibilität", die hilft, kritische Situationen an einzelnen Netzknoten zu vermeiden.
Zur Klärung der Forschungsfrage wurde eine komplexe Methodik mit einer dynamischen Gebäudesimulation für eine große Zahl an Referenzgebäuden aufgesetzt. Zu diesem Zweck wurden Einfamilienhaus, Mehrfamilienhaus, Büro, und Industriehalle gesondert nach Fläche, Raumhöhe, Geschoßzahl, typischen U-Werten, Fensterflächen, Infiltration, Raumnutzungsbedingungen und Raumbetriebsdaten samt einem Raumtemperaturband im Komfortbereich simuliert. Für einzelne Typen wurde die Installation von PV-Modulen und entsprechende Eigennutzungsgrade der Strom-erzeugung berücksichtigt. PV-Eigennutzung hat große Auswirkungen auf den Netzstrombezug während der Kühlphasen und in Übergangszeiten. Als Referenzstandort zur Berücksichtigung der Wetterdaten wurde Linz gewählt, da hier Heizgradtage nahe am Bundesdurchschnitt gegeben sind und der Ort gleichermaßen urbane und ländliche Bebauung aufweist. Danach wurde die Vielzahl an Gebäudetypen im Jahresablauf unter Berücksichtigung der typischen Außentemperaturen, der Sonneneinstrahlung und der Komfortbereiche für Heizen und Kühlen simuliert.
Als nächster Schritt wurde ein mathematisches Optimierungsmodell mit einer Steuerung der Wärmepumpen zur bestmöglichen Nutzung der Schwankungen des Strompreises über das Modell gelegt. Aus dem Vergleich des ungesteuerten Szenarios (Business as usual) mit einem preisgesteuerten optimierten Szenario (Börsenpreise am Day-Ahead Markt mit prognostizierten Preisen und Volatilitäten bis 2040) wurde sodann der geldwerte energiewirtschaftliche Nutzen der Flexibilität nach heutigem Geldwert berechnet.
Im Durchschnitt der verschiedenen Varianten beträgt die Kosteneinsparung bei preisoptimiertem Betrieb der Wärmepumpen im Jahr 2025 ca. 22%, im Jahr 2040 aber, je nach Variante, 50-75%. Die Einsparung ist bei Luft-Wärmepumpen größer als bei Erdwärmepumpen, was auf die größere Effizienz der Erdwärmepumpe im Jahresverlauf zurückzuführen ist. Eigenstrom aus PV bringt dem Nutzer viel, verringert aber den Nutzen aus preisoptimiertem Strombezug aus dem Netz. Bei Dienstleistungsgebäuden ist mehr zu holen als im Wohnbau und hier im Mehrwohnungsbau mehr als bei Eigenheimen.
Die Kosteneinsparung bzw. der Nutzen des preisoptimierten Betriebs der Wärmepumpen für Energieversorger und Netzbetreiber konzentrieren sich auf die Wintermonate, denn die unterstellte Ausstattung der Gebäude mit PV bewirkt, dass im Sommer trotz Kühlung und in den Übergangsmonaten nur vergleichsweise wenig Strom für die Wärmepumpen vom Netz bezogen werden muss.
Als abschließender Schritt wurde die Simulation der Referenzgebäude mit der Hochrechnung der Gebäudebestände mit Flächenheizung (Bauteilaktivierung und Fußbodenheizung) für die Zeithorizonte 2025, 2030, 2035 und 2040 verknüpft. Die erzielbaren Kosteneinsparungen wachsen mit der Ausweitung der aktivierten Flächen und erreichen gemäß der Berechnungen bis 2040 etwa € 23 Mio. pro Jahr. Den mit Abstand größten Stellenwert hat der großvolumige Wohnbau. Flächenheizungen in Neubau und Sanierung zusammengenommen, kommt der Fußbodenheizung ein größerer Stellenwert als der Bauteilaktivierung zu.
Zum Verständnis der nur moderat hohen Kosteneinsparungen ist zu ergänzen, dass nur die Energie für Heizen und Kühlen, nicht jedoch für die Aufbereitung von Warmwasser berücksichtigt wurden, die bei modernen, gut gedämmten Häusern bis zu 40% des Gesamtenergiebedarfs ausmachen. Es sind nur die reinen Energiekosten, nicht aber Netzgebühren, Steuern und Abgaben, beinhaltet. Die zugrunde gelegten Preise sind jene, zu denen ein Energielieferant an der Strombörse einkaufen würde. Die Preise für Endkunden und damit das Einsparungspotenzial aus Konsumentensicht sind weit höher. Es ist längerfristig mit steigender Preisvolatilität zu rechnen, was weitere Vorteile für einen preisorientierten Strombezug bietet.
Über diesen unmittelbaren Kostenvorteil hinaus ist vielfältiger weiterer Nutzen der optimierten Steuerung von Wärmepumpen zur Gebäudekonditionierung für Energieversorger und Netzbetreiber absehbar, aber nur schwer monetär bewertbar. Die Sektorkopplung kann zu Netzstabilität und Netzsicherheit beitragen. Kostenvorteile ergeben sich, wenn damit der Netzausbau geringer dimensioniert und auf den einen oder anderen neuen Trafo verzichtet werden kann. Gut denkbar ist auch eine aggregierte Teilnahme von vielen kleinen Wärmepumpen am Regelenergiemarkt. Das Schnüren solcher Pakete ist zwar technisch komplex, könnte aber lukrativ sein. Schließlich trägt eine Lastverschiebung in Niedrigpreiszeiten zur besseren Ausschöpfung vorhandener regenerativer Ressourcen und damit zur Erreichung der Klimaziele bei.
Die Immobilienwirtschaft kann aus der neuen Technologie vielfältigen Nutzen ziehen: Der Entfall der Heizkörper bringt mehr Nutzfläche, die Strahlungswärme der Bauteilaktivierung ist angenehmer als die Konvektionswärme von Heizkörpern, sie bietet unkomplizierte, komfortable und kostengünstige Kühlung, sie ist wartungsfreundlich und langlebig. Der emissionsfreie Betrieb trägt zu einer ESG- und Taxonomie-konformen Bewertung der Immobilien bei. Die minimierten Energiekosten erlauben einen höheren Nettoertrag. All das erhöht den Wert der Immobilie.
Von der gewonnenen Nutzfläche, der angenehmen Strahlungswärme, der günstigen Kühlung, Wartungsfreundlichkeit und Langlebigkeit, der besseren Werthaltigkeit und dem maximierten PV-Eigenverbrauch profitieren gleichermaßen Bewohner:innen bzw. selbstnutzende Eigentümer:innen.
Der monetäre Nutzen eines preisoptimierten Betriebs der Wärmepumpen für die Bewohner hängt allerdings von der Verfügbarkeit variabler Netztarife ab. Obwohl in der EU-Binnenmarktrichtlinie vorgeschrieben, werden von den großen Energielieferanten bislang keine dynamischen Verträgen angeboten.
Die Studie wurde, vom Klimaschutzminiterium beauftragt und mit Forschungsförderung der FFG unterstützt, durch die Projektpartner IIBW und e7, in Österreich führende Knowhowträger einerseits in Wohnungs- und Immobilienwirtschaft, andererseits in Energieforschung, erstellt.
Publikationen
Bewertung der Bauteilaktivierung als Option für Flexibilität im Strommarkt
Um die Forschungsfrage dieser Studie nach dem zukünftigen Stellenwert der Bauteilaktivierung für die Energieversorgung zu beantworten, wurde ein Schätzmodell zum erwartbaren Neubau von Wohn- und Dienstleistungsbauten bis 2040 sowie der Sanierung von Bestandsbauten entwickelt.
Schriftenreihe
50/2023
W. Amann, G. Preßmair, A. Stipsits, S. Schoisengeier, C. Amann, A. Preisler, M. Mayr
Herausgeber: BMK
Deutsch, 75 Seiten
Downloads zur Publikation
Projektbeteiligte
IIBW – Institut für Immobilien, Bauen und Wohnen GmbH
FH-Doz.Dr. Wolfgang Amann
In Kooperation mit:
e7 energy innovation & engineering
DI Guntram Preßmair, Alina Stipsits, BSc, Sama Schoisengeier, MSc, Anita Preisler, MSc, DI Christof Amann